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Sanft streicht der Wind über Tokio, schaukelt die Baumkronen, streicht durch das schlohweiße Haar des älteren Herren. Im gleißenden Sonnenlicht zieht Hayao Miyazaki mit geschlossenen Augen an seiner Zigarette. Hier auf dem Dach des Zeichentrickstudios Ghibli sind die Geräusche der Stadt wie verschluckt. Und Herr Miyazaki träumt vom Fliegen.
In Japan wird er verehrt wie ein Nationalheiliger, seine Filme übertrumpfen internationale Blockbuster. Für sein wunderwirres Märchen "Chihiros Reise ins Zauberland" erhielt Hayao Miyazaki 2003 den Oscar. 2015 folgte einer fürs Lebenswerk. Selbst John Lasseter, Leiter von Disneys Animations-Abteilung, hält ihn für den größten lebenden Animationsfilmer: "Seine Filme füllten meine Seele mit einem Antrieb, selbst so etwas zu erschaffen."
In der Welt des Zeichentricks gilt Miyazaki beinah als gottgleich. Doch Gott ist im Ruhestand. Am heutigen Dienstag feiert der liebevolle Misanthrop seinen 75. Geburtstag. "Wie der Wind sich hebt" war 2013 sein letzter Film: das Ende einer langen Karriere.
"Ich bin ein Mann des 20. Jahrhunderts, ich habe kein Interesse am 21.", sagt Hayao Miyazaki in der Doku "The Kingdom of Dreams & Madness" über die Dreharbeiten von 2013. Im Malkittel mit eingestickten Bären wirbelt er durch die Ateliers, sein Elan und seine Konzentration lassen seine jungen Helfer alt aussehen. Und doch wird deutlich, wie müde Miyazaki nach all den Jahren ist.
Sein Vororthaus ist eine mit schwarzen Holzschindeln verkleidete Verbeugung vor dem idealisierten Europa, das er in seinen Filmen so oft beschwört. Dort philosophiert Miyazaki über Sinn und Unsinn seiner Kunst. "Filmemachen bringt nur Leid", sagt er zwischen zwei Kippen und lacht. Seine Frau lacht auch. Vor der Tür steht ein alter Citroen 2CV. Ein Fossil. So ein Relikt ist auch Miyazaki selbst, der auf Handarbeit mit Pinsel und Papier besteht, wo andere längst den Computer rechnen lassen.
"Heidi", ein japanischer Heimatfilm
Sein Werk, das sind Welten voller überbordender Fantasie. In diesen elf animierten Spielfilmen prallen kindliche Sorgen ums Großwerden auf Sagenkreaturen und Monster, Schweinepiloten und Roboter. Und alle fliegen sie. Die Kinder auch. Wagen einen Blick von oben auf die Dinge, die von hier unten unlösbar scheinen. "Ich werde keine Filme machen, die Kindern sagen: 'Du solltest verzweifeln und wegrennen'", hat Miyazaki einmal erklärt. In seinen Filmen mutet er Kindern viel zu. Und wird gerade darum von Kindern so geliebt.
Seine eigene Kindheit verbrachte Hayao Miyazaki, Jahrgang 1941, in Tokio. Die Familie hatte als Zulieferer für Flugzeugteile im Zweiten Weltkrieg ein Vermögen verdient. Dieser moralische Ballast und der Traum vom Fliegen - es sollten die Eckpfeiler seines Lebens werden. Im Studium hatte Miyazaki sich zum überzeugten Marxisten entwickelt. Japans Nationalismus noch viele Jahre nach dem Krieg war ihm zuwider. Im Zeichentrick-Studio Toei Douga Studio fand Miyazaki ein Zuhause und seinen wichtigsten Förderer - den Regisseur Isao Takahata.
"Meine Filme spiegeln sicher auch Verachtung gegenüber meinen Eltern wider, die sich kaum um mich kümmerten", erklärte Miyazaki dem SPIEGEL 2003 in einem Interview. Takahata lehrte ihn, seine Überzeugungen mit Pinsel und Tusche auszudrücken. Ihrem ersten großen Film "The Great Adventures of Horus, Prince of the Sun" folgte 1974 der Durchbruch mit "Heidi". In der Anime-Serie verpasste Miyazaki der Romanfigur von Johanna Spyri einen bunten Anstrich und machte sie zum Kult in Japan wie Deutschland.
Magische Städte, freundliche Fabelwesen
Eine kleine Heldin im Kampf mit den Widersprüchen der Erwachsenenwelt - dieses Thema sollte Miyazakis Werk fortan bestimmen. Mit Takahata verfilmte er 1984 seinen Manga "Nausicaä aus dem Tal der Winde" über eine junge Prinzessin, die nach dem Untergang der Zivilisation für das Zusammenleben von Mensch und Natur kämpft. Nach dem Filmerfolg konnten die beiden ihr eigenes Anime-Studio gründen: Ghibli.
Weil sie die Zeichentrickindustrie durchwirbeln wollte, entschied sich der luftfahrtbegeisterte Miyazaki für "Ghibli". So heißt ein heißer Wüstenwind in der Sahara, nach dem auch der italienische Flugzeugbauer Caproni im Weltkrieg ein Transportflugzeug getauft hatte.
In "Das Schloss im Himmel" schwebte das Waisenmädchen Sheeta 1986 zu einer magischen Stadt über den Wolken. "Mein Nachbar Totoro", ein freundliches Fabelwesen, blies 1988 mit gewaltigen Lungen die Ängste der Schwestern Satsuki und Mei fort. In "Kikis kleiner Lieferservice" versorgte 1989 eine kleine Hexe auf ihrem Besen eine Kleinstadt mit Backwaren und guten Worten. Und mit "Porco Rosso" ließ Miyazaki 1992 einen verwunschenen Piloten mit Schweinegesicht im knallroten Doppeldecker auf Kopfgeldjagd gehen.
Japans Anti-Disney: Kein plakatives Gut und Böse
Miyazakis Märchen trug die Musik des Komponisten Joe Hisaishi; seine überirdischen Melodien untermalten die gemütliche Fremdartigkeit der Bildwelten. Fast durchweg standen Mädchen im Mittelpunkt. Ihre Probleme waren das Werk der Großen - und daran drohte auch Miyazaki selbst schier zu verzweifeln: Umweltverschmutzung, Krieg und Kapitalismus.
Ihren Sog entwickelten Miyazakis Filme, weil der Regisseur sich in sein Kinderpublikum versetzte. Statt sie mit stumpfem Gut-Böse-Dualismus zu betäuben, mutete er ihnen den Schmerz und die Komplexität des Lebens zu - und bot gleich darauf eine helfende Hand. "Meine Werke zwingen den Menschen keine simple Botschaft auf", erklärte Miyazaki im SPIEGEL. Und: "Disney belügt Kinder" - obwohl erst der Vertrieb durch den US-Konzern seine Filme im Westen bekannt machte.
Die Zerrissenheit ist seine Konstante. "Ich zeige nicht das Schicksal, ich zeige den Willen", sagt Miyazaki in der Dokumentation kurz vor seinem Ruhestand. Seine gefeierte "Prinzessin Mononoke" kämpft dagegen, wie Menschen die Natur ausschlachten. Und sein Oscar-prämiertes Meisterwerk "Chihiros Reise ins Zauberland" ist eine Analogie auf den Konsumwahn; die Eltern der kleinen Chihiro verwandelte Miyazaki in gierige Schweine.
Im letzten Film "Wie der Wind sich hebt" bohrte Miyazaki tief in den Wunden der eigenen Biografie. Er setzte Jiro Horikoshi ein Denkmal: Der Flugpionier entwarf im Zweiten Weltkrieg Kampfflugzeuge für Mitsubishi - vom Träumer zum Mittäter. Wild mischte Miyazaki die Ingenieur-Biografie mit Traumsequenzen und Anspielungen auf Thomas Manns "Zauberberg". Ein Abgesang auf und zugleich eine Liebeserklärung an das Fliegen: diesen Traum, der sein ganzes Leben geprägt hat.
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